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Leonie Mertes (*1967), TR

Leonie Mertes ist eine Künstlerin, die genau hinsieht, die genau hinhört, die sich Dinge merkt auf dem Weg zur Ausstellung, Dinge aufhebt, ihre Gegenwart einfängt, um dann vor Ort intuitiv zu zeichnen, zu malen und ihre Wahrnehmung in den Raum entlässt. Mitbringsel finden Platz. Papierarbeiten von ihr werden integriert und eine großformatige Wandarbeit entsteht. Eine Art Zeichen-Graffiti mit Materialcollage. Sie fühlt sich frei, die Regeln bestimmt sie. Es geht um Schaffensprozesse. Hier ist nichts vorherbestimmt und kann auch nicht für immer bleiben, siehe ihre beeindruckende Wandarbeit im Folkwang Museum Essen. Diese Vergänglichkeit und was ihre Kunst auslösen könnte, interessiert sie. Ein Moment der Nachhaltigkeit wird durch die Erinnerung bleiben. „Erlebnisse, Empfindungen, Licht, Schatten, Raum, Nachbarschaften, Geschichte und Geschichten an den Tagen vorher, am Tage selbst, Wegstrecke, Zeichen, Geräusche, Rhythmus…all das bildet die Grundlage für unmittelbare Impulse während der Ausführung“, beschreibt die Künstlerin selbst ihre Einflüsse für die Kunst. Wie leben wir? Welche Wertigkeit haben die Dinge, die uns umgeben? Papier. Welche Bedeutung hat ein Blatt Papier? Ein alltäglicher Gegenstand, fast belanglos, in Massen hergestellt, beschriftet, bedruckt und entsorgt im Altpapier. Dabei hat Papier eine jahrtausendealte Geschichte, Entwicklung, Evolution und unglaubliche Vielfalt. Wie der Mensch auch. Die eigene Geschichte ist darin verwoben und auch aufgezeichnet. Menschen lieben den Geruch von Büchern und das Anfassen. Das Berühren der Blätter, das Tasten der Strukturen, Fasern … das Gefühl von Natürlichkeit und Herkunft. Erinnerung. Papier zum Basteln, Nachrichten übermitteln, wichtige Dinge aufschreiben, damit sie nicht verloren gehen. Poesie. Dazu braucht man keinen Strom und kein Internet, nur einen Stift. Und sich selbst. Die Basis für alles. Der Bezug zur Natur. Sich einfinden vor diesem Blatt. Für Leonie Mertes ist Papier ein Teil von allem, es ist Baum, Rinde, Pilz, Leben. Umgebung. Eindrücke, Veränderlichkeiten. Ein Material, mit dem sie spricht – mit der Persönlichkeit eines jeden Blattes taucht sie ein, durch eine winzige Öffnung, mit dem Graphitstift und versucht mehr zu erfahren. Da ist doch mehr, der Dialog beginnt. Sie hört das Kratzen des Stiftes, sie spürt den Widerstand des Materials beim Spalten der Papierfasern. Sie zupft, dehnt, gräbt, behutsam und respektvoll, und wagt sich unter die Oberfläche. Es geht unter die Haut, wo man eigentlich gar nichts vermutet hätte. Graphitlinien schimmern unter der zarten Papieroberhaut hervor, einzigartige Papierkunst entsteht – es ist tatsächlich eine Technik, die nur von ihr angewandt wird, von ihr entwickelt wurde. Subkutan. Da ist Gewebe. Es entsteht eine Narbe, eine Spur, eine Prägung, eine Öffnung, eine Leiböffnung. Die Zeichnung wird plastisch. Es geht um Ausgrabung, Freilegung und Schichtungen. Ein Zusammenspiel von Tiefe, Raum, Bewegung. Sie schafft besondere fragile Papierkörper – durch die Eigenwilligkeit des Materials kann sie nie vorherbestimmen, wie etwas werden wird. „Die Grenzen von Zeichnung, Malerei und Objekt verschwimmen. Am Ende stehen skripturale, seismografischen Aufzeichnungen“, erklärt Leonie Mertes und fügt hinzu: „Es ist immer wieder ein kleines Abenteuer, etwas Neues zu entdecken.“

Bettina Ghasempoor